Eine Entfettungskur

„Ja, sehen Sie mal, liebster Herr Werner, so geht das nicht weiter. Der Fettansatz am Herzen lässt sich nicht wegleugnen, und davon rühren ihre Beschwerden her, die Kongestionen nach dem Kopfe und was damit zusammenhängt. Dagegen wollen wir mal energisch einschreiten.“
„Ob es nicht am Ende doch von der Galle herkommt?“ entgegnete der Rentier Paul Werner seinem Hausarzt; „ich leide doch manchmal an melancholischen Anwandlungen, unter meinem Konversationslexikon steht, dass Melancholie von schwarzer Galle herkommt.“
„Ach, Unsinn“, erklärte der Doktor; „mit der Galle an das gar nichts zu tun. Aber am Herzen sitzt Ballast und er muss herunter. Also lassen Sie Ihr Konversationslexikon in Ruhe und folgen Sie meinen Verordnungen.“
„Schön, Herr Doktor! Hier haben Sie Papier und Feder, schreiben Sie mir ein Rezept; ich werde alles einnehmen, was Sie...“
„Einnehmen?“ Unterbrach ihn der Arzt; „Sie sind nicht recht bei Trost; ausgeben, ausgeben!“
„Was soll ich denn ausgeben?“
„Kraft! Aber gehörig; körperliche Übungen sollen sie machen bis zur Erschöpfung!“
„Aha, - Sie meinen Hanteln oder etwas Ähnliches?“
„Gegen das Hanteln hätte ich im Prinzip nichts einzuwenden. Aber das genügt mir noch nicht. Wissen Sie was? Ziehen sie hinaus aufs Land, sehen Sie, wie sich der Dörfler dort rackert und schindet, und tun sie’s ihm nach. Sie haben dabei den doppelten Vorteil, ihre Muskeln, auszuarbeiten und gute Luft zu atmen. Dabei schmilzt das Fett, wie Butter in der Sonne. Nach etlichen Monaten kehren sie als ein ganz anderer Mensch zurück, dafür garantiere ich Ihnen.“
Die Mahnung des Medikus fiel auf fruchtbaren Boden. Paul Werner packte seine Koffer, nahm auf längere Zeit Abschied von seinen Stammtisch Freunden und fuhr ins Gebirge. Urlaub zu nehmen hatte er nicht nötig, nicht vom Bureau, nicht von der Gattin, denn er besaß weder Geschäft noch bessere Hälfte, und so konnte er sich darauf einrichten, bis tief in den Spätherbst hinein der Reichshauptstadt fernzubleiben. Nach längerem Suchen fand er endlich in dem lieblichen Flecken Mückenthal einen Ort, wie er ihn für seine Zwecke geeignet erschien. Hier bezog er ein hübsches Logis bei der Witwe Dremmler, einer ehrlichen Gärtnersfrau, die aus dem Zimmervermieten während der schönen Jahreszeit ein erträgliches Nebengewerbe machte. Unser Sommerfrischler bekam seine Wirts Frau in den ersten Wochen nur wenig zu Gesichte, da er tagelang in den Bergen umher schweifte, aufwärts und abwärts, in wechselndem Tempo, gleichsam zur Vorübung für die stärkeren Körperübungen, die er sich für die Folgezeit aufsparte. Die Besserung seines Gesundheitszustandes wollte sich freilich nicht so schnell einstellen: die einzige Veränderung, die allenfalls erkennbar wurde, ließ sich auf einen rein äußerlichen Umstand zurückführen: Sein schon in Berlin recht stattlicher Vollbart gedieh in der balsamischen Landluft zu geradezu großartige Dimensionen, und da Werner in der Ungebundenheit seines Gebirgsaufenthalts auch die Pflege des Haupthaares vernachlässigte, so gewann er allmählich jenes naturmenschliche Ansehen, welches sich als Begleiterscheinung gewaltsamer Märsche einzustellen pflegt.
Als er daranging, den Kreis seiner Übungen zu erweitern und von der einfachen Körperbewegung zu komplizierteren überzugehen, stieß sie auf allerhand Widerwärtigkeiten. Der Anblick eines Holzhackers begeisterte ihn zu dem Entschluss, sich in der nämlichen Tätigkeit zu versuchen; das Beispiel des Holz spaltenden Premierministers Gladstone fiel ihm ein, und alsbald kam ein Tauschgeschäft zustande, kraft dessen der Tagelöhner eine Mark Abstandsgeld, Herr Werner dagegen die scharfe Axt erhielt. Wuchtig fielen die Schläge, so wuchtig, dass schon in der nämlichen Minute das stärkste Holzscheit einem vorübergehenden jungen an die Wange flog, wo es eine Spur in Gestalt einer gediegenen Hochquart zurückließ. Der kleine Lümmel wusste die Ehre, die Trophäen einer Mensur schon in so zartem Alter zu tragen, nicht genügend zu schätzen, brüllte vielmehr dermaßen, dass Herr Werner eine weitere Mark als Schmerzensgeld spendieren musste und der Holzhauerei für Lebenszeit abschwor.
Zum Glück fand er bald darauf im Gehöft eine lange und schwere Eisenstange, welche sich als ein höchst passendes Instrument für allerhand Athletenkünste darbot. Sie ließ sich als Bayonnetierstock verwenden, mit einem Griff wie eine Keule umher schwingen und schließlich auch als Springstange gebrauchen. Dass ging nun sehr gut, solange es eben gehen wollte, das heißt bis unser Überfex auf eine nur lose mit Brettern bedeckte Grube aufsprang und zwar so kräftig, dass er durchbrach und sich im nächsten Moment von einer landwirtschaftlich zwar sehr wertvollen, im übrigen aber sehr unangenehmen Substanz umfangen sah. Mehrere Knechte mussten sich um seine Rettung und nachträgliche Säuberung bemühen, Herr Werner aber hatte zugleich mit dem Parfüm der Düngergrube einen unversöhnlichen Hass gegen die Eisenstange eingesogen, und obschon er, von einer Schramme an der Stirn abgesehen, keinen Schaden genommen hatte, entsagte er doch allen weiteren Exerzitien auf dem Hofe und wandte sich wiederum dem Gehsport zu.
Die Sonne des nächsten Tages sah ihn bereits auf einer sehr anstrengenden Tour über steile Gebirgspfade. Im Kruge des nächsten Dorfes, Schnakenhausen genannt, verweilte er zu kurzer Rast, und hier war es, wo er die Bekanntschaft des Ortschirurgus machte.
„Scheinen heute schon tüchtig gewandert zu sein, Herr,“ begann dieser.
„Ganz tüchtig,“ sagte Werner, indem er den Schweiß abwischte, „und ein paar Meilen muss ich noch absolvieren; was tut der Mensch nicht alles für seine Gesundheit!“
„Na aber, so wie Sie wandern,“ versetzte der Chirurg, „das kann unmöglich gesund sein.“
„Wie meinen Sie das?“
„Ich meine, wenn man sich müde macht und schwitzt, dann muss man den Kopf frei haben und die Poren offen halten. Mit so einem Bart- und Haarwuchs, wie sie haben, geht das nicht; ist direkt lebensgefährlich. Hab mal einen gekannt, den hat der Schlag dabei getroffen.“
Werners Hypochondrie malte sich im Nu den nämlichen Zustand aus, und da sich herausstellte, dass der Chirurg auch die Geschäfte eines Barbiers besorgte, so geschah das unvermeidliche. Schere und Messer bekamen gute Arbeit, ratzekahl geschoren und rasiert betrachtete sich Werner im Wandspiegel, mit der Empfindung des Staunens über seine Veränderung, zugleich aber mit dem Gefühl grenzenloser Erleichterung und vollendeten Wohlbehagens.
„So, jetzt können Sie weiter marschieren,“ sagte der Chirurg, „Sie werden mal sehen, wie gut Ihnen das bekommen wird.“
Der Rentner machte sich wiederum auf den Weg um der nächsten Ortschaft zuzueilen. Unterwegs überholte er einen etwa zwanzigjährigen Burschen, der unter der Last eines gefüllten Korbes keuchte. Halt, dachte Werner, das wäre so etwas für dich! Mit so einem Ding auf der Schulter muss man die Muskeln doch noch ganz anders ausarbeiten, als wenn man bloß so einfach dahin spaziert.
„Hören Sie, junger Mann,“ sagte er, „geben Sie mir das zu tragen; ich strenge mich gern an, weil’s mir der Doktor verordnet hat.“
„Sie sind halt a sehr freundlicher Herr,“ erwiderte der Bursch; „wenn Sie’s a Stückel tragen wollen, wär nicht schlecht; mir hat’s schon bald den Buckel z’sammendruckt.“
Der Korb wurde umgeladen, beide wanderten nebeneinander den Weg entlang. „Was haben Sie denn da drin?“ Fragte Werner mit der ungewohnten Bürde auf dem Rücken.
„Was werde ich da groß drin haben?“ Entgegnete der andere, „Kleider, Wäsche und was der Mensch sonst so braucht.“
„Und was wollen Sie damit machen?“
„Ach, wir handeln hier herum mit sowas; wenn sich amal a Käufer findet.“
Der Pfad wurde immer steiler, unter einer scharfen Biegung des Weges sah sich unser Wandersmann, der vorausgeschritten war, plötzlich einem Gendarmen gegenüber. Dieser betrachtete sich den städtisch gekleideten Träger mit großer Aufmerksamkeit und fragte dann, höflich lächelnd:
„Was tun Sie denn mit dem Korbe ?“
„Den trage ich spazieren, das sehen Sie ja.“
„Was ist denn drin?“
„Wenn Sie so neugierig sind, so sehen Sie doch selbst nach, ich gestatte es Ihnen.“
Der Gendarm griff von hinten in den Korb und zog ein Taschentuch hervor. „Wollen Sie denn das verkaufen?“ fragte er.
„Selbst verständlich,“ erwiderte der Rentier mit einem Anflug jovialer Laune; „das müssen Sie mir doch auf den ersten Blick ansehen, dass sich ein Hausierer bin.“
„Wie gut sich das trifft,“ sagte der Gendarm, indem er auf den ironischen Ton einging, „so ein Taschentuch könnte ich gerade gebrauchen; was soll es denn Kosten?“
„Weil Sie es sind, bloß ,75 Pfennig,“ antwortete Werner, der sich dabei vorstellte, wie sich der Bursche über das erste Geschäft auf offener Straße freuen würde. Der Gendarm zog sofort seinen Geldbeutel und zahlte. Dann setzt er trocken hinzu: „So, jetzt zeigen Sie mir doch mal Ihren Gewerbeschein!“
Werner schien diese Worte vollständig zu überhören. „Na, adieu, Sie!“ sagte er, indem er sich zum weitergehen anschickte.
Ausdrücklicher als zuvor erwiderte der Hüter der Ordnung: „Ihren Gewerbeschein will ich sehen, Herr, - bleiben Sie stehen!“
„Was wollen Sie denn von mir,“ erwiderte der andere gereizt; „ich bin doch kein Hausierer, das sehen Sie doch!“
„Das sehe ich freilich, aber sie haben mir soeben etwas verkauft und müssen folglich einen Schein besitzen, verstanden?“
„Lassen Sie mich in Ruhe! Die Sachen gehören ja gar nicht mir, die gehören dem Burschen dahinten, lassen Sie sich meinetwegen von dem seinen Gewerbeschein zeigen!“
„Ihr Bursche geht mich gar nichts an, ich habe es nur mit ihnen zu tun, sie sind verantwortlich. Wo ist denn übrigens der Mensch, von dem sie erzählen?“
„Na, dahinten ist er!“
Man ging einige Schritte zurück bis an den Punkt, wo man eine größere Strecke des Weges überblicken konnte. Der Bursche war fort und blieb trotz allen Suchens verschwunden.
„Na, also!“ Sagte der Gendarm; „Sie wollten mir was vorschwindeln; jetzt fordere ich Sie zum letzten Mal auf: zeigen Sie den Schein, oder sie folgen mir zum Amtmann.“
„Der Henker soll ihnen folgen! Sie wollen mich anzeigen, mich? Was? Ich werde Sie anzeigen, dass sie harmlose Passanten belästigen! Sie werden von ihrem Vorgesetzten eine Nase kriegen, so lang! Lassen Sie mich ungeschoren und machen Sie, dass Sie weiterkommen!“
Der Gendarm konstatierte nunmehr ein zweites Vergehen, dass der Beamtenbeleidigung, und erklärte den Spaziergänger als seinen Arrestanten. Gegen die Gewalt der Tatsachen ließ sich zunächst nichts ausrichten. Brummend und fluchend folgte Herr Werner dem Vertreter der irdischen Nemesis zum Ortsvorstand.  Hier erlebt er zunächst eine große Annehmlichkeit: man nahm ihm den Korb ab. Allein auch alles Übrige, was er an tragbaren Gegenständen bei sich hatte, Uhr, Schlüssel, Taschenmesser musste er ins Depositum geben. Alsdann wurde ihm das Spritzenhaus zum vorläufigen Asyl angewiesen.
„Ich verlange, sofort vernommen zu werden; die Sache muss in 5 Minuten erledigt sein!“ rief der Häftling mit dem Brusttone der gekränkten Unschuld.
„I, damit haben wir es hier nicht so eilig,“ war die Antwort; „warten Sie nur, dass Sie gerufen werden!“
Und sie hatten es wirklich gar nicht so eilig; sie ließen sich trotz aller Proteste des Eingesperrten volle 48 Stunden Zeit, ehe sie das Verhör mit ihm aufnahmen. Die Lagerstätte, die man ihm anwies, unterschied sich von einem Himmels Bett ebenso gründlich, wie die ihm zugeteilte Kost von derjenigen Nahrung, an die er als wohlhabender Mann gewöhnt war. Die Reichlichkeit der Muße, die mit der Spärlichkeit des Komforts grell kontrastierte, veranlasste ihn schließlich, seine Lage reiflich zu erwägen, und da überlegte er:
„Die Sache wird 20 oder 30 Mark kosten, das wäre an sich nicht so schlimm. Aber ich gelte dann fürs ganze Leben als ein „Vorbestrafter“  und werde den Fleck aus der Konduitenliste nie wieder los. Das Beste ist schon, ich verschweige meinen wahren Namen und nenne mich irgendwie anders, Müller oder Krüger oder Weber, dann bleibt der Werner, der ich bin, unbestraft und kann die ganze Geschichte in etlichen Tagen wieder vergessen haben!“
Endlich wurde er aus seinem Verlies rausgeholt, allein wider Erwarten kam er nicht vor dem Amtsmann, sondern vor den Untersuchungsrichter, der seltsamerweise zur Behandlung einer solchen Bagatelle aus der nächsten Stadt herbeizitiert worden war.
„Sie heißen?“
„Mein Name ist Krüger.“
Der Mann des Gesetzes schob seine Brille zurecht, heftete einen durchbohrenden Blick auf den Rentier und inquirierte:
„Krüger – wirklich Krüger?“
„Ja, weshalb soll ich denn nicht Krüger heißen?“
Der Richter wandte sich an den Protokollanten: „Schreiben Sie: der Mann gibt selbst zu, dass er Krüger ist.“
„Sie sind am Dienstag mit einem Korbe auf dem Rücken im Gebirge angetroffenen worden; räumen sie das ein ?“
„Jawohl, und hatte keinen Gewerbeschein; stimmt alles. Und nun sagen Sie mir gleich, wie viel das kostet, ich zahle die Kleinigkeit gern, wenn ich nur recht schnell nach Hause kann.“
„Gar so billig dürften Sie doch nicht davonkommen. Sie sind es wohl auch nicht gewöhnt, ihre Affären mit Geld abzumachen.“
Der Rentier verfärbte sich und stotterte: „Wie meinen Sie das?“
„Lassen wir das einstweilen. Sagen Sie mir, Krüger, wie kamen Sie zu dem Korb?“
„Ach, der gehört einem jungen Menschen, der ihn übers Gebirge schleppte, und da erbot ich mich, den Korb ein bisschen zu tragen.“
Der Untersuchungsrichter legte sich mit Amtswürde zurück und sagte:
„Ich muss gestehen, wir sind in meinem Leben schon verschiedene Ausreden vorgekommen, aber so eine doch noch nicht. Deshalb wollten Sie ihn denn tragen?“
„Auf Anweisung des Arztes; ich aber nämlich etwas auf dem Herzen - -!“
„Das glaube ich Ihnen, Krüger! Sie werden noch mancherlei auf dem Herzen haben!“
„- - und da wollte ich mein Fett  wegkriegen.“
„Seien Sie unbesorgt: ihr Fett werden sie schon wegkriegen, darauf verlassen sie sich nur! Sie wollen mir also wirklich einreden, dass sie den Korb mit gestohlenen Sachen aus purer Gutmütigkeit auf den Rücken nahmen?“
„Was Tausend! die Sachen sind gestohlen?“
„Ich muss gestehen, mir ist in meiner Praxis schon so mancher Heuchler vorgekommen, aber so einer doch noch nicht. Eine Zwischenfrage, Krüger: wo haben Sie sich die Verletzung an der Stirn zugezogen?“
„Ach, die Schramme ? die habe ich mir vor ein paar Tagen geholt, da bin ich nämlich mit einer schweren Eisenstange im Gehöft eingebrochen; hat gar nichts zu sagen.“
„Hat nichts zu sagen!“ Wiederholte der Richter hohnlachend; „wie originell! Diese Mischung von scheinbarer Naivität und verbrecherischer Verschmitztheit ist wahrhaft köstlich! Nun, Krüger, das Gehöft, auf dem sie eingebrochen sind, ist mir bekannt, es ist das Grundstück der Witwe Dremmler.“
„Allerdings,“ sagte Werner, schon gänzlich eingeschüchtert, „allein Sie haben mich völlig missverstanden: ich turnte da nämlich im Hofe herum....“ .... „ und dann turnten Sie in ein verschlossenes Zimmer, rafften da Kleider und Wäsche in einem Korb zusammen und turnten damit über alle Berge.“
„Ich bitte Sie, Herr Untersuchungsrichter - - ich werde ja ganz konfuse - - jetzt soll ich gar die Sachen gestohlen haben, - ich soll in einem verschlossenen Zimmer eingedrungen sein?“
„Mit diesem Nachschlüssel, der, die bereits ermittelt, genaue zu der betreffenden Tür passt. Sie werden doch nicht leugnen, dass wir diesen Schlüssel unter ihren Gegenständen gefunden haben. Äußern Sie sich, Krüger, wie sie zu diesem Instrument gekommen?“
Werner betrachtete den Schlüssel und erklärte: „Das ist sehr einfach, - den hat mir ja die Witwe Dremmler selbst gegeben.“
Der Richter kreuzte die Arme über die Brust und sagte: „Ich muss gestehen, ihre Frechheit hat etwas verblüffendes. Sie behaupten nicht mehr und nicht weniger, als dass Sie sich ihr Diebeswerkzeug von demjenigen liefern lassen, bei denen Sie einbrechen. Übrigens kommen Sie mit dieser wahnsinnigen Aussage nicht eine Elle weit: wir haben bereits gestern ermittelt, dass zu dem betreffenden Zimmer nur ein einziger Schlüssel existiert, und dass dieser von dem Mieter des Zimmers, dem Herrn Paul Werner aus Berlin, auf einer Wanderung mitgenommen worden ist.“
„Aber dieser Paul Werner aus Berlin, - der bin ich ja!“
„Da hört denn doch Verschiedenes auf! Herr Protokollführer, wollen sie dem Menschen gefälligst vortragen, was ich Ihnen gestern diktiert habe, in Verbindung mit dem, was der Delinquent selbst heute ausgesagt hat.“
Der Angerufene erhob sich und las: „Es bestand von Anfang an die Vermutung, dass der berüchtigte Einbrecher Adolf Krüger, der sich in dieser Gegend umhertreiben soll, dem mit großem Raffiniment ausgeführten Diebstahl im Hause der Witwe Dremmler begangen hat. Heute erschien der nach frischer Tat Ergriffene zum ersten Verhör und gab zu, dass er der Krüger sei.“
„Sehen Sie mal, Krüger,“ ergänzte der Richter, „nach allem, was man von Ihnen gehört hat, muss man sich ja bei Ihnen auf großartige Überraschungen gefasst machen; aber dass Sie sich mitten in der Verhandlung umtaufen und für den Bestohlenen ausgeben, das überschreitet doch alle Grenzen!“
„Es wird sich ja alles aufklären!“ jammerte Werner; „es war er eine reine Unvorsichtigkeit von mir, einen falschen Namen anzugeben ....“
„Halten wir das fest,“, unterbrach der Richter; „schreiben Sie ins Protokoll: Inkulpat versuchte plötzlich, seine Identität zu bestreiten, ließ aber auf eindringliche Vorhaltung des Untersuchungsrichters davon ab und räumte nochmals ein, dass er der Krüger sei.“
„Nein, der Paul Werner!“ Jammerte der andere.
„Sie kommen also wieder auf ihre alten Sprünge, Krüger! Was Sie uns glauben machen wollen, ist folgendes: Werner bricht bei Werner ein, Werner stiehlt seine eigenen Sachen und flüchtet damit übers Gebirge; so war es doch wohl? Denn dass die bewussten Sachen jenem Herrn gehören, ist über jeden Zweifel hinaus klargestellt worden.“
Der geängstigt Berliner wusste kaum noch eine Antwort. Die Sinne wirbelten ihm. Sein Blick glitt wie Hilfesuchend im Zimmer umher und blieb schließlich auf einem Bündel haften. „Sind das die Gegenstände, die sich in dem Korb befanden?“ fragte er nach einer größeren Angstpause.
„Drücken wir uns korrekter aus,“ verbesserte der Mann des Gesetzes, „es sind die Gegenstände, die Sie in den Korb getan haben, um mit ihnen auszureißen. Treten Sie näher und sehen Sie sich die Objekte einmal genauer an!“
Der Krüger wider Willen tat, wie ihm befohlen war.
„Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.“ Sprach er nach kurzer Besichtigung, „diese Sachen gehören ja wirklich mir!“
„Das nenne ich Konsequenz,“ rief der untersuchende Beamte aus; „nach dem anarchistischen Grundsatz ist Eigentum Diebstahl, - Sie gehen noch einen Schritt weiter und erklären Diebstahl für Eigentum!“
„Aber ich versichere Ihnen, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, das sind meine Sachen,“ beteuerte der Rentier; „Ach, wenn nur die Frau Dremmler zur Stelle wäre, dann würde sich schon alles aufklären!“
„Sie ist zur Stelle!“ entgegnete der Richter. Er erhob sich, öffnete die Tür und rief in den Flur: „Frau Dremmler, kommen Sie herein!“ Und zu der Eintretenden gewandt, fuhr er fort: „Sehen Sie sich diesen Mann recht aufmerksam an; kennen Sie ihn?“
Die Dörflerin maß den Pseudo-Krüger mit einem langen Blick und erklärte: „Nee, den kenn‘ ich nich.“
„Aber Frau  Dremmler, wie können Sie sowas sagen,“ jammerte der Rentier, „ich wohne ja bei Ihnen, ich bin ja der Herr aus Berlin, der Herr Werner!“
„Nee, der sind sie nich! Der Herr Werner sieht ganz anders aus, der hat ja’n großen Bart!“
Der Moment war kritisch. Werner fühlte, wie die Hand des Verhängnisses auf ihn niedersauste.
Er griff sich mit der Rechten ins Gesicht, ließ entsetzt wieder los, tastete durch die Luft nach einer Bank und sank zerschmettert zusammen.
„Sie kann mich ja nicht erkennen!“ stöhnte er, „ich habe mir ja den Bart abnehmen lassen!“
„Damit wird das Signalement ergänzt,“ bemerkte der Richter trocken, „dass wir von ihnen in Händen haben. In diesem Signalement heißt es: Krüger trägt auf der Unterlippe einen kleinen Bart, eine so genannte Fliege. Zum Glück haben Sie uns den kleinen Diebeskniff mit dem Abrasieren selbst verraten. Wir können somit die Untersuchung vorläufig schließen.“
Auf einen Wink des Beamten erschien der Gendarm, der unseren Sommerfrischler in das Spritzenhaus zurückführte und sich selbst als Posten davor aufpflanzte. Wieder erwog Werner seine Lage und überdachte, wie viel die Geschichte wohl kosten könnte. Aber die Rechnung gestaltete sich jetzt wesentlich anders, als kurz vorher; statt der 20 oder 30 Mark Strafgeld erschienen seinem fantasierenden Geiste nunmehr eine Reihe Geschworener, eine vergitterte Zelle, eine Sträflingsjacke und die sonstigen Attribute langwierigen Aufenthalts in Numero Sicher.

Aber schon am nächsten Tage erschöpfte sich die Tücke des Schicksals. Die Behörde zu Mückenthal hatte an die Staatsanwaltschaft zu Dresden, von welcher der hinter Krüger erlassene Steckbrief herrührte, eine Siegesdepesche gesandt mit dem Inhalt: Wir haben den Krüger, Signalement stimmt genau“; worauf die sächsische Staatsanwaltschaft zurückdrahtete: „Lächerlicher Missgriff, - den Krüger haben wir; sitzt seit 12 Stunden in Dresden hinter Schloss und Riegel.“ Und nun durchbrach die Sonne der Wahrheit siegreich das Gewölk der Irrtümer und Missverständnisse: Der Chirurg von Schnakenhausen meldete sich mit der Angabe, dass er an dem bewussten Tage nicht eine Fliege, sondern einen ausgewachsenen Vollbart zu Boden gesäbelt habe, und aufgrund dieser Tatsache war sogar die Gärtnerswitwe in der Lage, bei einer erneuten Konfrontation mit dem vermeintlichen Einbrecher ihren Logisherrn zu rekognoszieren. Nun ergab sich der Sachverhalt von selbst: Der Berliner Rentier war an jenem fatalen Dienstag zu seiner Wanderung aufgebrochen, ohne die Zimmertür zu verschließen; ein vagabundierender Strolch – der gemütliche Bursche vom Bergpfade – hatte die bequeme Gelegenheit zu einem Diebstahl ausspioniert, war mit Werners Sachen ausgerückt und beim Anblick des Gendarmen schlauerweise in die Gebüsche entflohen.
Unser Freund erblickte in der wiedergewonnenen Freiheit keinen Anlass zur Fortsetzung seiner Leibesübungen. Er fuhr viel mehr direkt nach Berlin, wo er kraft seines Abenteuers von den Stammtischfreunden mit Einstimmigkeit zum Helden der Saison ausgerufen wurde. Der Hausarzt gab nach ausführlichem Beklopfen und Behorchen das Gutachten ab: „Mein lieber Werner, ich stelle es als eine Tatsache fest, dass ihr Herzfett vollkommen verschwunden ist!“
„Und dabei,“ versetzte dieser, habe ich doch in der letzten Zeit meines Landaufenthalts eine vorwiegend sitzende Lebensweise geführt. Sollte am Ende die Angst und der schreckliche Fraß im Spritzenhause ...?“
„Kann schon sein,“ sagte der Doktor; „die Medizin lernt nie aus. Wenn ich wieder einen solchen Fall zur Behandlung kriege, so verordne ich dem Patienten jedenfalls ein paar Tage Untersuchungshaft!“


Alexander Moszkowski